In Hamburg ging es los
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In seinem alten, himmelblauen Ford Granada
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Kasseler Berge, Würzburg, Nürnberg, Linz, Wien
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Ließ er alles links liegen
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Das Ziel war das Burgenland, die österreichisch-ungarische Grenze
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In Mattersburg besorgte er sich «den besten Bolzenschneider, den man für Geld
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kaufen konnte.»
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Fast 400 Schilling
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In Mörbisch am See checkte er in die Pension Peterhof ein
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Kaufte sich einen Döner und wartete auf die Nacht
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Um kurz nach eins klopfte es an seiner Tür
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Der Verbindungsmann gab ihm einen Brief
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Und verschwand wieder ohne ein Wort zu sagen
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Er lernte den Brief auswendig und machte sich zu Fuß auf den Weg
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Runter die Ödenburger Straße, vorbei an den letzten Laternen
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Und kurz vor der Kehre in den Feldweg rechts rein bis ganz zum Ende
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Die letzten hundert Meter weiter durch das hohe Gras
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Hinein in das kleine Wäldchen
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Die Grenzpatrouille um 3:30 abgewartet
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Taschenlampe raus: drei mal kurz, zwei mal lang
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Und dann auf der Lichtung sah er sie
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Sie kamen
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Gerannt
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Es war im Sommer '89, eine Flucht im Morgengrauen
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Er war der Typ, der durch die Nacht schlich
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Und schnitt Löcher in den Zaun
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An einer ungarischen Grenze
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Im ersten Morgengrauen
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Nur ein Bolzenschneider nötig
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Für Löcher im Zaun
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Im Sommer '89
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Als sie durch den Zaun durch waren
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Liefen sie so schnell es die Kinder zuließen
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Bis zu den ersten Laternen
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14 Menschen, drei Familien
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Keine Champagnerkorken, kein Konfettijubel
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Nur große Erleichterung und noch größere Erschöpfung
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Sie gingen gemeinsam zum Busbahnhof, setzten sich auf die Bänke
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Und warteten auf den 6:22er Bus nach Wien
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Vor lauter Müdigkeit wurde kaum gesprochen
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Nur einmal fragte ihn eins der Kinder
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Was denn der Spruch auf seinem Dead-Kennedys-T-Shirt zu bedeuten hätte
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Als der Bus dann pünktlich vorfuhr, gab er einem Vater seinen Wien-Stadtplan
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Mit der eingekreisten Adresse der deutschen Botschaft
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Er verteilte seinen letzten Schillinge noch auf die drei Familien
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Und wünschte ihnen allen ein gutes Leben
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Sie bedankten sich tränenreich und vielmals für alles
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In einer Sprache und einem Dialekt, den er kaum verstand
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Er vermutete damals, dass das Sächsisch war
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Es war im Sommer '89, eine Flucht im Morgengrauen
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Er war der Typ, der durch die Nacht schlich
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Und schnitt Löcher in den Zaun
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An einer ungarischen Grenze
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Im ersten Morgengrauen
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Nur ein Bolzenschneider nötig
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Für Löcher im Zaun
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Im Sommer '89
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Zurück in Hamburg dann die große Einerseits-Andererseits-Diskussion
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Am WG-Küchentisch mit seinen Freunden
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Einerseits wäre die Aktion natürlich gut gemeint gewesen
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Wegen den Familien und so
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Aber andererseits wäre eine deutsche Einheit und darauf laufe die Entwicklung
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der letzten Wochen nunmal hinaus, ein großer Fehler
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Deutschland dürfe nie wieder ein Machtblock mitten in Europa werden
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Und eine solche Hilfe zur Flucht der DDR-Bürger
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Würde nur zur weiteren Destabilisierung der Verhältnisse beitragen
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Also wie gesagt: «Die Aktion war menschlich verständlich
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Aber trotzdem falsch.»
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Er schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte
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Und sagte so leise, wie es ihm grad noch möglich war:
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«Ihr wisst, dass das Schwachsinn ist
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Sie lassen alles zurück und sie fliehen und vielleicht…»
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Er machte eine kurze Pause und überlegte
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Ob er den letzten Satz wirklich sagen sollte
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Aber kein Wort mehr
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Eine komplette Stille trat ein
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Die anderen tauschten nur Blicke aus, einige lächelten milde
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Jemand legte sogar sacht eine Hand auf seine Schulter
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Die Sekunden vergingen
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Er stand auf, verließ das Zimmer
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Jacke, Tür, Treppenhaus, Luft
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Er nahm seinen alten Ford Granada
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Und ward nie mehr gesehen
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Der Rest ist Geschichte
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Es war im Sommer '89, eine Flucht im Morgengrauen
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Es war im Sommer '89, und er schnitt Löcher in den Zaun
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Sie kamen für Kiwis und Bananen
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Für Grundgesetz und freie Wahlen
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Für Immobilien ohne Wert
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Sie kamen für Udo Lindenberg
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Für den VW mit sieben Sitzen
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Für die schlechten Ossi-Witze
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Kamen für Reisen um die Welt
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Für Hartz IV und Begrüßungsgeld
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Sie kamen für Besser-Wessi-Sprüche
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Für die neue Einbauküche
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Und genau für diesen Traum
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Schnitt er Löcher in den Zaun |