| Vor sechzig Jahren war sie jung
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| Und wurde konfirmiert
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| Errötend und erwartungsvoll
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| Zum ersten Mal frisiert
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| Drei Jahr' danach war sie verlobt
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| Des Vaters Wunsch erfüllt
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| Die Hochzeitsnacht war in Stettin
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| Die Sehnsucht ungestillt
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| Und heute geht sie die Straße entlang
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| Spricht laut mit ihrem Hund
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| Erzählt ihm, wie schön es damals war
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| Von Kindern, Krieg, bestandner Gefahr
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| Nur manchmal zittert ihr Mund
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| Ja, Wilhelm war ihr einz’ger Mann
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| Sie hatte ihn ganz gern
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| Und Liebe, davon sprach man nicht
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| So manches blieb ihr fern
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| Ob sie mal schön war, weiß sie nicht
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| Er hat es nie erwähnt
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| Sie weinte, als er plötzlich starb
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| Sie war an ihn gewöhnt
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| Und heute geht sie die Straße entlang
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| Spricht laut mit ihrem Hund
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| Erzählt ihm von dem, was doch niemals war
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| Champagnersoupers, Diademen im Haar
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| Nur manchmal zittert ihr Mund
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| Ihr Sohn, der schickte manchmal Geld
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| Zum Schreiben kam er nie
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| Den Brief der Tochter las sie oft
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| Er war voll Poesie
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| Vom Enkel hat sie nur ein Bild
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| Sie hat ihn nie geseh’n
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| Der Schwiegersohn hat’s nicht gewollt
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| Sie war ihm unbequem
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| Und heute geht sie die Straße entlang
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| Spricht laut mit ihrem Hund
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| Erzählt ihm, wie selten sie glücklich war
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| Von ihrem Rheuma, der Angst, dem Katarrh
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| Und wieder zittert ihr Mund |